Otto Salsa's Trip

Als Otto Salsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett mit einem ungeheuren Kater wieder. Aber nicht nur sein Kopf hämmerte und das Zimmer spielte Karussell wie für gewöhnlich. Er verspürte Schmerzen am ganzen Körper, ein waberndes Stechen und Ziehen in allen Gliedern und Gelenken. Irgendwie fühlte er sich seltsam reduziert, geschrumpft, weniger geworden. Und er hatte Durst, höllischen Durst. Sein erster halbwegs klarer Gedanke ließ ihn forschen, was denn der Auslöser für sein Unbehagen sein könnte. Doch er fand keine richtige Erklärung, so sehr er sein Gehirn auch zermarterte. Letztendlich begnügte er sich mit der Tatsache, dass der am Vortag erheblich konsumierte Alkohol in Kombination mit ein paar unvorsichtig eingeworfenen Party-Pillen die merkwürdigen Symptome verursacht haben könnte.

Schmerzerfüllt setzte er sich auf und stellte gravierende Veränderungen an seinem Körper fest. Es fehlte etwas. Nein, es fehlte sogar ziemlich viel. Nicht nur dass sein über die Jahre hin aufgebauter Fettbauch einem hässlichen Muskelwaschbrett gewichen ist. Seine Fettwülste an Armen und Beinen, sein perfekt gewucherter Brustpelz und sogar seine fleischigen Wurstfinger waren weg. Einfach weg. Panik überkam ihn.

Ungelenk stolperte er ins Badezimmer. Das kalte Nass schien ihm wie ein Wasserfall aus dem Hahn zu strömen. Im verdreckten Waschbecken bildete das Wasser einen tiefen Ozean, der von einem gewaltigen Strudel in der Mitte langsam verschluckt wurde. Erst als das Meer verschwunden war, getraute sich Otto, seinen Durst mit der kühlen Flüssigkeit zu löschen. Doch ihm war, als würde er Öl ins Feuer gießen und spuckte in den Abfluss. „Diese Wichser wollen mich mit Meerwasser vergiften“ dachte sich Otto. Vorsichtig spritzte er das Nass in sein Gesicht. Zu seinem Erstaunen wirkte es erfrischend wie ein prickelnder Regen winziger Eiskristalle.

Als Otto mit noch immer trübem Blick sein Spiegelbild betrachtete, konnte er nicht fassen, was er erblickte. Er war entstellt und versuchte verzweifelt, mit kräftigem Drücken und Reiben seinen alten Zustand wieder herzustellen. Wo waren seine breite, schiefe Knollennase, sein wunderbar aufgedunsenes Gesicht mit den Tränensäcken unter beiden Augen, sein wulstiges Mehrfachkinn und seine perfekt abstehenden Ohren mit den aus ihnen wuchernden Haaren? Wo war seine tiefe Narbe an der rechten Wange, die er sich selbst angefertigt hatte? Anstatt all dieser Schönheitsmerkmale, starrte ihn eine Fratze aus dem Spiegel entgegen. Eine schlanke, gerade Nase prangerte zentral in seinem Gesicht, darunter fein gezogene, volle Lippen, die eine gerade Reihe weißer Zähne verdeckten. Seine Haut war eklig glatt und faltenlos, die Ohren eng anliegend, haarlos.

Übelkeit überkam ihn und Otto erbrach sich in die Toilette. Was sollte er bloß tun? Er konnte sich auf keinen Fall mit diesem charakterlosen Gesicht, mit diesem hageren und viel zu muskulösen Körper auf der Straße blicken lassen. An die Arbeit im Büro war gar nicht zu denken. Er wollte sein gewohntes Äußeres wieder zurück, nur wie sollte er dies anstellen? Auf der Toilette sitzend und nach geraumer Zeit des Vor-sich-hin-Sinnierens fasste er in einem Moment der Klarheit den Entschluss, heute noch einen Plan zu schmieden.

Otto kramte verzweifelt in einer Schublade auf der Suche nach einem Mittel, das ihm seine Schmerzen linderte. Ordnung war nicht seine Stärke. Erlösung fand er endlich, als er seine einzige Jeans durchwühlte, die er neben seinem Bett am Boden fand. „Sieht fast so aus wie das Zeug von gestern“ sagte er sich, bevor er die Pille einwarf und mit einem kräftigen Schluck aus der Flasche, die er auf einem Regal fand, runterspülte. Die Flüssigkeit in der Flasche sah nur wie Wasser aus, roch und wirkte aber wie billigster Fusel.

Wenig später schienen seine Schmerzen wie weggeblasen. Bevor sich Otto wieder auf seine Matratze legte und den alten Fernseher anmachte, um sich von seinem Schrecken seiner zauberhaften Verwandlung zu erholen, rief er seinen Büroleiter an.
„Tach Gunnar, ich kann die nächsten Tage nicht ins Büro“ schnurrte Otto leidend ins Handy.
„Mann Salsa, du warst doch schon seit Monaten nicht mehr …“
„Ich weiß, Gunnar“, unterbrach er ihn „aber mir geht’s grad echt Scheiße, weißt du. Ich ruf dich wieder an, wenn ich fit bin, tschüs.“

Hunger überkam ihn und es schien ihm ein guter Weg, mittels überdosierter Zufuhr von Kohlenhydraten und Fett, seine Regeneration zu beginnen. Bei Giancarlo, dem sizilianischen Besitzer seiner Lieblingspizzeria unten am Eck, orderte Otto drei Pizze. Er ließ sich die Kartons vor die Tür stellen, um dem rundlichen Italiener nicht unter die Augen treten zu müssen.
„Otto, du musste mir die Pizze bezahle!“ meinte Giancarlo lautstark durch die Tür.
„Ich kann grad nicht, hab Besuch da … du weißt schon“ log er seinen Pizzabäcker an und versuchte einen verschmitzten Ton in seine Stimme zu zaubern.
„Kannst du mir abends gegen sechs noch deine sensationelle ‚Pasta del Giorno‘ raufbringen? Dann kriegste die Kohle gleich für alles zusammen.“
„Ma porco dio … immer dieselbe Scheiße mit diese Type!“ murmelte diesmal Giancarlo nur halblaut vor sich hin und sagte dann laut, so dass Salsa es durch die Tür hören konnte: „Va bene, aber vergiss meine Geld nicht, Otto!“

Otto verdrückte eine Pizza nach der anderen, spülte das Gekaute mit dem noch vorhandenen Fusel runter. Er zappte sich durch verschiedenste Talk-Shows in der Hoffnung, dort Leidensgenossen zu sehen, die ihm Ratschläge geben könnten. Otto Salsa musste sich am Ende aber eingestehen, dass er seinen dünnen Körper nur mit viel Essen und wenig Bewegung wieder zu seinem früheren Aussehen verändern könne. Er begann, daran zu arbeiten.

Trotz der südländischen Mentalität des kleinen rundlichen Pizzabäckers, war er zuverlässig und pünktlich. Er brachte wie vereinbart abends seine abgepackte Pasta vorbei. Giancarlo klopfte gewohnt kräftig italienisch an Otto Salsa‘s Tür. Keine Reaktion. Er klopfte erneut, lauschte, klopfte wieder. Nichts. Er drückte die Klinke runter und die Wohnungstür ließ sich knarrend öffnen.
„Otto? Deine Pasta iste fertig.“
Niemand antwortete. Nur langsam und vorsichtig wagte er sich vor. Als er den kleinen Vorraum durchschritt, rief er erneut nach Salsa. Wiederum keine Reaktion.

Ein widerlicher Gestank kroch ihm in die Nase, der nicht einmal von seiner duftenden Pasta übertüncht werden konnte. Kalter Zigarettenrauch, vor sich hin faulende Essensreste, verschütteter Alkohol. Mehrere leere Flaschen lagen am Boden herum. Bier. Billiger Vodka.
Giancarlo tastete sich vor bis in den Wohnraum. Der Fernseher flimmerte tonlos. Mitten im perfekten Chaos von herumliegenden Kleidungsstücken, leeren Pizzakartons, Unmengen an leeren und halbleeren Alkoholflaschen lag Otto auf dem Möbelstück, das früher einmal eine Couch war. Er röchelte, schnarchte, schien also nicht tot zu sein, nicht ganz. Giancarlo wollte sein Paket irgendwo abstellen, fand aber nirgendwo Platz dafür.

Der Italiener stakste durch den Müll, arbeitete sich bis zur Balkontür vor. Er brauchte frische Luft, dringend. Nur mühsam gelang es ihm, die Türe zu öffnen, indem er dabei geräuschvoll Flaschen und sonstigen Unrat nach innen schob. Draußen konnte er durchatmen, stellte seine Pasta del Giorno ab und kämpfte gegen die Übelkeit, die ihn ihm aufstieg.

Als er sich wieder gefangen hatte, drehte er sich um und blickte vom kleinen Balkon aus in die vor ihm liegende Müllhalde, in der Otto hauste. Wie konnte man hier leben? Wie kann es sein, dass Giancarlo das alles selbst nie mitbekommen hatte, bei der Regelmäßigkeit, die er vorne an der Wohnungstür angeklopft und Essen vorbei gebracht hatte? Er musste wieder rein, um Otto’s Zustand zu überprüfen und ihn möglicherweise ins Krankenhaus zu schaffen. In diesem Moment kam Salsa auf ihn zu. Die ungewohnt frische Luft dürfte seine Lebensgeister geweckt haben. Er stellte sich in den Türrahmen, stemmte sich mit beiden Händen darin fest. Sein Kopf hing nach unten, zerzaustes Haar im Gesicht. Er hustete, spuckte.

Dann hob er seinen Kopf und schaute Giancarlo mit irrem Blick an. „Verdammte Scheiße, was willst du hier? Wo sind die anderen?“ keuchte Otto, erneut berauscht von den konsumierten Drogen. Der Italiener hatte keine Ahnung, was er meinte. Salsa’s vollkommen verwirrten Zustand konnte er nicht einordnen. „Deine Pasta, ich … du brauchste Hilfe, Otto“.
„Leck mich, ihr werdet mich nie kriegen, du und deine verfickten Mafiosi!“ brüllte er, richtete sich auf, wankte auf den kleinen Italiener zu und packte ihn am Hals. Er drückte ihn immer weiter über die Balkonbrüstung. Giancarlo versuchte verzweifelt sich festzuhalten. Der Druck um seine Kehle verhinderte, dass er schreien konnte. Schweiß tropfte dem Italiener von der Stirn. Otto konnte in seinen weit aufgerissenen Augen die Panik und das Unverständnis lesen.

Direkt über dem röchelnden Giancarlo erblickte Otto plötzlich den Mond, der groß und milchig-blass knapp über den Häuserzeilen thronte. Abrupt lockerte er seinen Würgegriff, ließ seine Hände regungslos nach unten baumeln. Er starrte in das fahle Vollmondlicht, das die Stadt in eine wunderbar flauschige Wolke zu hüllen schien. Der Sizilianer keuchte und wich ein paar Schritte zurück.

„Der Mond ist viel zu rund viel zu schön“ lallte Otto und bugsierte seinen Körper über das Geländer. Im Fallen sah er für einen Sekundenbruchteil sein Spiegelbild in der Glasfassade. „So dünn bin ich gar nicht“, huschte ein letzter klarer Gedanke durch sein verkifftes Gehirn.