High Noon

Die Sonne steht senkrecht über Roseshome. Wie angeschraubt. Erbarmungslos. Die Konturen der kleinen Siedlung flimmern in der hirnverdampfenden Hitze. Der Oberhuber hat sich nach all den Jahren noch immer nicht an die Temperaturen in den Südstaaten gewöhnt. Eine Handvoll ausgehungerter Geier hockt erwartungsvoll auf der Dachkante der Post Station. Knochentrockener Wind bläst durch die Häuserreihen und treibt verdorrte Grasbüschel vor sich her. Trotz seiner beachtlichen Körperfülle wirft der Oberhuber kaum einen Schatten. Immer zur selben Zeit verlässt er freitags sein Rathaus und schleppt seinen massigen Körper gemächlich zum schräg gegenüberliegenden Saloon, der selbst hier mitten in Texas Beergarden heißt. Dafür hat der Oberhuber, der Bürgermeister, schon gesorgt. Wie immer ist er bayerisch ausstaffiert in speckiger Lederhose, rot-kariertem Hemd, bayerischem Hut mit Gamsbart und seinen Haferlschuhen. Die Uhr am Kirchturm zeigt Viertel vor zwölf.

 

„Hola, Aleman!“, schreit der kleine Mexikaner, der sich ihm in den Weg stellt. Der Oberhuber kennt diese viel zu schrille Stimme, die ihm ein Schaudern über seinen verschwitzten Rücken laufen lässt, so wie Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzen. Breitbeinig steht er da, der Mann aus Veracruz. Keine eins sechzig hoch, keine sechzig Kilo schwer samt seiner vollen Munitionsgürtel, die um seine kaum vorhandenen Schultern hängen, und dem Colt, den er lässig um seine Hüfte geschnallt hat. Lediglich sein breitkrempiger Sombrero verleiht dem Winzling etwas Männliches, abgesehen von den ihn umgebenden Ausdünstungen. Man nannte ihn Hombre in seiner Heimat, bis zu seiner Emigration in die Staaten. Hier aber nennt man den Kleinwüchsigen ‚El Nino‘, von Roseshome bis an die mexikanische Grenze und rüber bis zum Rio Bravo.

 

El Nino hat auf ihn gewartet, auf den Bürgermeister dieser jungen Siedlung, auf den Aleman. Der Mexikaner weiß um dessen Eigenart, immer freitags am späten Vormittag im Saloon diese für ihn eigenartig bleichen Würste zu fressen und Bier zu saufen, bis er nicht mehr stehen kann.

 

„Servus!“, brummt es aus einer verdammt trockenen und nach bayerischem Weißbier lechzenden Kehle. Obwohl er diesen Zwerg nicht ausstehen kann, obwohl er generell keine Ausländer mag in seinem Roseshome, ist er redlich bemüht, die Situation nicht eskalieren zu lassen. Er hat Hunger. Er hat Durst. Er will in den Beergarden und er will Weißwürste.

 

„Du hast mir mein Land gestohlen, Aleman!“, brüllt El Nino und beschwert sich damit über die für den Oberhuber nebensächliche Tatsache, dass er ihm sein Stück Land unten am Red River im Flächenwidmungsplan noch immer nicht in Bauland umgewidmet hat.

 

„A so a Schmorrn“, kontert der Oberhuber, „du muasst nur no dein‘ Staatsbürgerschoftsnochweis bringen und deine Aufenthaltsgenehmigung samt Arbeitsbewilligung. Jo und für eine Handvoll Dollar kriagst donn a dei Umwidmung vo mia.“

 

„Pah, Mierda! Und du hast mir meine Hanfplantage niedergebrannt und meine kleine Juanita, meine Tochter geschändet, Concho!“, prustet El Nino heraus, ohne Luft zu holen. Teuflisch stechende Augen leuchten aus seiner vor Aufregung rotgefärbten Fratze.

 

„Iatz moch‘ oba amoi halblong, Ninnjo. Des mit deiner Plantage wor net i, sondern der Hans, mei Bruada. Und de Juanita is zu mir ins Rathaus kemma und woit an Job ois Praktikantin. I schwör’s, do wor nix, wos sie net a woit! Soi mi auf der Stell‘ da Blitz daschlog’n.“

 

„Stirb aufrecht, Uberober!“, verlautet der Mann, der kam, um zu töten.

 

„Oberhuber, zefix, merk‘ dir des amoi!“ Er weiß, dass der Mexikaner dies absichtlich macht, dennoch steigt sein ohnehin schon überhöhter Blutdruck. Aus dem Augenwinkel erblickt er die Uhr am Turm. Knapp zehn vor zwölf. Die Zeit drängt, will er seine Weißwürste noch rechtzeitig vorm Zwölfe-Läuten verspeisen. „Du Ninnjo“, eröffnet er kompromissbereit, „moanst net, dass mia ins des so a ausdaschnopsn?“

 

„Nada, ich mache Chili aus dir, Aleman!“, erwidert der Mexikaner lauthals, „und dann lass‘ ich alle Bleichgesichter dieses fetteste Chili in ganz Texas kosten, hahahaa!“

 

Der Bürgermeister weiß, dass mit dem Giftzwerg nicht zu spaßen ist, spätestens seit dem letzten Oktoberfest, das er hier in Roseshome organisiert hat. El Nino konnte sich selbst nach drei Flaschen Tequila nicht mit dem Gedudel der bayerischen Blechmusik anfreunden, worauf er kurzerhand ‚Die glorreichen Sieben‘, so nannten sie sich, niederstreckte und damit die ansonsten ausgelassene Stimmung auf einen zwischenzeitlichen Tiefpunkt brachte. Leider gab es keine bleichgesichtigen Augenzeugen, außer den Musikanten selbst, so dass El Nino lediglich mit einem siebenfach lebenslänglichen Festivalverbot bestraft wurde.

 

„Iatz beruhig‘ di wieda, Ninnjo. Loss‘ mi erst amoi meine Weißwürst‘ essn, donn huck‘ ma ins zomm und …“, noch bevor der Oberhuber den Satz zu Ende bringen kann, zieht El Nino seinen Colt. Peng! Der Schuss lässt den Bürgermeister erschreckt zusammenzucken und einen der am Dach der Post-Station wartenden Geier zu Boden stürzen. Eine Handvoll schwarzer Federn begleitet den Abgang des Federviehs.

 

Ganz Roseshome scheint inzwischen diesem Showdown beizuwohnen. Der Sheriff, Oberhubers Bruder, hält sich vornehm zurück. Frauen und Kinder tummeln sich hinter den Glasscheiben, die von den regelmäßigen Sandstürmen milchig geschliffen wurden. Der ortsansässige Totengräber holt seinen Fotzenhobel aus seinem abgewetzten schwarzen Mantel und stimmt ein bayerisches Volkslied an.

 

El Nino’s Puls schnellt bei dieser Musik noch weiter in Höhe. Nervös fummelt er mit seinen verdreckten Fingern am Abzug. „Hey Totengräber. Spiel mir das Lied vom Tod!“, fordert er ihn auf und fügt dramatisch hinzu: „Uberober und ich sind verdammt zu leben, verdammt zu sterben.“

„Jo, wennst moanst, oba mia zwoa kunnt’n vorher no a Bier und a Weißw…“, ein erneuter Einlenkungsversuch Oberhubers.

 

„Muere, Aleman!“, unterbricht El Nino den Oberhuber. Dieser denkt an den Topf mit den im heißen Wasser schwimmenden Weißwürsten. Die Uhr am Kirchturm klickt. Drei Minuten vor Zwölf.

 

„Jo, is scho guat!“

 

Die gnadenlosen Zwei fixieren einander. Auch der Oberhuber hat seine rechte Hand an seinem Revolver in Position gebracht. Beide sind bereit, es jetzt und hier zu beenden.

 

„Adios,Gringo!“, verkündet El Nino voller Selbstüberschätzung.

 

Der Totengräber beendet sein Lied. Leise weht der Wind des Todes durch Roseshome.

 

„Auf geht’s.“ entgegnet der Oberhuber mit knurrendem Magen.

 

Der Bürgermeister sieht den Mexikaner ziehen. Schnell, schneller als tausend Colts. Peng! Er reißt und zerrt an seinem Revolver, der im Halfter klemmt. Peng! Oberhuber’s Unbeweglichkeit kommt ihm in dieser Situation nicht gerade entgegen. Peng! Er kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt so geschwitzt hat. Peng! El Nino’s fünfte Kugel reißt ihm das rechte Ohrläppchen weg und hinterlässt ein irres Singen in seinem Ohr. Blut. Tinnitus. Seine hundertfünfzig Kilo wanken, taumeln, aber nur kurz. El Nino grinst. 

 

„Zefix no amoi“, brüllt der Oberhuber, „Hurerei, geh aussa do, Glump damisches!“ Die letzte Kugel. Peng! Endlich hat er seine Knarre befreit. „No oissa“, stellt er mit dem Revolver in seiner Rechten erleichtert fest.

 

Er streckt beide Hände von sich. Betrachtet seinen unversehrten Körper, das Ohrläppchen mal ausgenommen. „Wie kann man den Oberhuber nicht treffen?“, denkt sich der Oberhuber. Ein breites Grinsen überfällt ihn. Dann fokussiert er El Nino, zielt auf vor Entsetzen weit aufgerissene Mexikaner-Augen. „Pfiat di, Ninnjo!“, meint der Bürgermeister süffisant und drückt ab. Peng! Die Kugel bläst dem Mexikaner in den Sombrero, durchquert seine Schädeldecke und fliegt hinten am Sombrero beinahe ungebremst wieder raus. „Blattschuss! Nur eine Kugel für den Bastard“, freut sich der Bürgermeister.

 

In der Glut der Sonne, vor dem Saloon hockend dokumentiert der Ortschronist, der nebenbei noch Autor diverser Schundliteratur ist, dieses unglaubliche Duell. „Hey Tarantino, host des g’sehn? Konnst amoi deinen Enkerln davon erzähl’n!“

 

Der Oberhuber lacht laut, schallend, hysterisch und verspürt plötzlich ein Ziehen in seiner linken Brust, das zu einem stechenden Schmerz wird. Er setzt seinen Weg zum Beergarden fort, endlich. Ein wenig Blut tropft ihm vom Ohr auf seine Schulter, mehr nicht. Sein rot kariertes und blutbesprenkeltes Hemd ist klitschnass. Er schwingt seine Körpermasse auf die Veranda des Beergardens. Das ausgetrocknete Holz ächzt unter seinen Haferlschuhen. Dann stößt er geräuschvoll und mit schmerzverzerrtem Gesicht die blau-weiß-karierte Saloontür auf. Seine Weißwürste warten bereits im Topf dampfend, frisch. High-Noon, pünktlich.

 

Genüsslich zutzelt der Oberhuber eine nach der anderen aus. Das Stechen in seiner Brust wird stärker. Blut gerinnt in einem seiner Herzkranzgefäße. Bei seiner siebzehnten Weißwurst bekommt er keine Luft mehr, ringt verzweifelt nach Atem. Herzkammerflimmern. 

„Scheißdreck, vareckter!“ 

 

Mai 2012